Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 35


35
Ahnenfigur/Geister-Partner (blolo bian)
Holz. Baule, Elfenbeinküste
Schätzung:
€ 2.000
Ergebnis:
€ 8.125

(inklusive Aufgeld)
Ahnenfigur/Geister-Partner (blolo bian).
Holz. Baule, Elfenbeinküste.
Höhe: 30,5 cm (12 in).

PROVENIENZ:
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032).

AUSSTELLUNG:
Inspiration des Fremden. Die Brücke-Maler und die außereuropäische Kunst, Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), 13.11.2016-29.1.2017, Kat.-Nr. 13 (m. Abb., S. 40).

LITERATUR:
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 419, SHG-Nr. 904 (m. Abb.).

Als Fritz Bleyl, Erich Heckel, E. L. Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff sich 1905 in der Künstlergruppe "Brücke" zusammenfinden, ist Deutschland noch eine der größten Kolonialmächte Europas. Im Dresdner Völkerkundemuseum entdecken die jungen Maler erstmals die dort zusammengetragene Kunst fremder Kulturen, mit der sich insbesondere Kirchner und Schmidt-Rottluff schließlich Zeit ihres Lebens sehr intensiv und auch gestaltend auseinandersetzen werden. An Erich Heckel schreibt Kirchner 1910 in einem Brief: "Hier ist das Völkerkundemuseum wieder auf, nur ein kleiner Teil, aber doch eine Erholung und Genuss die famosen Bronzen aus Benin, einige Sachen der Pueblos aus Mexiko sind noch ausgestellt und einige Negerplastiken" (31.3.1910 an Erich Heckel in Berlin, zit. nach: Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten an Erich Heckel, Köln 1984, Nr. 30.). Obwohl Kirchner die fremden Länder nie selbst bereisen konnte, stattet er seine Ateliers mit zahlreichen exotischen Gegenständen, bspw. mit orientalischen Teppichen und japanischen Wandschirmen aus, er sammelt ägyptische Zeichnungen, besitzt einzelne afrikanische Möbelstücke (u. a. einen Leopardenhocker aus Kamerun) und hegt eine große Faszination für die Fresken in den indischen Ajanta-Höhlen. Seine Wohnungen und Ateliers werden zu persönlichen Rückzugsorten, in denen es ihm mehr oder weniger gut gelingt, der politisch immer bedrohlicheren Außenwelt und seinem psychologisch angeschlagenen Inneren zu entfliehen. In seiner Sehnsucht nach größtmöglicher Ursprünglichkeit, auf seiner Suche nach einer Einheit von Kunst und Natur "flieht" er aus der Stadt an die Moritzburger Teiche, nach Fehmarn an die Ostsee und schließlich nach Davos in die abgeschiedene Bergwelt der Schweizer Alpen.

In dem von der Industrialisierung vermeintlich unberührten Leben der Völker Afrikas, Ozeaniens, Nord- und Südamerikas und ihrer vermeintlich ursprünglichen Kunst und Kultur entdecken Kirchner und Schmidt-Rottluff ein Gegengewicht zur bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und Europa. Dort sehen sie ihre Ideale, eine geglückte Verbindung von Natur und Kunst, ihre stilistischen Ziele und Formbestrebungen verwirklicht und bestätigt. Insbesondere innerhalb der afrikanischen Kunst fasziniert Kirchner die Andersartigkeit der Form, in der er eine damit einhergehende Befreiung von den klassizistischen Schönheitsidealen seiner Zeit und seiner eigenen Kultur erkennt. In seinen selbst geschnitzten Holzskulpturen, aber auch in seinen Gemälden, seinen Darstellungen menschlicher Körper lassen sich deutliche Parallelen zu der erwähnten außereuropäischen Kunst ausmachen. Angesichts dieser engen künstlerischen Verbindung zwischen den "Brücke"-Künstlern und ihren außereuropäischen Inspirationsquellen verwundert es nicht, dass einzelne afrikanische Arbeiten der Schnitzkunst - wie auch die hier angebotene Holzfigur der Baule - Eingang in die Sammlung Hermann Gerlinger finden. Die Kunst der Baule gehört zum westlichen Kanon afrikanischer Kunst von der Elfenbeinküste. Insbesondere aufgrund ihrer naturalistischen Darstellungen und der beeindruckenden Fähigkeiten der Schnitzkünstler gehören die Baule-Skulpturen zu den begehrtesten Objekten afrikanischer Kunst. Sie sind sehr aufwendig und mit großer Raffinesse geschnitzt. Charakteristisch sind die Symmetrie, die präzise ausgeführte Frisur und Skarifizierung, die halb geöffneten Augen sowie die in sich gekehrte, kontemplative Haltung mit den auf dem Bauch ruhenden Händen.

Der kulturelle Zeitgeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland und die inspirierende Kraft, die von der afrikanischen Kunst auf das Schaffen der "Brücke"-Künstler abstrahlt, wird insbesondere in den letzten Jahren auch im Kontext des aktuellen Spannungsverhältnisses zwischen Inspiration und Aneignung in viel beachteten musealen Ausstellungen thematisiert, bspw. mit "Kirchner und Nolde. Expressionismus und Kolonialismus" im Stedelijk Museum in Amsterdam, im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen und im Brücke-Museum in Berlin (2021/2022) sowie zuvor mit "Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien" im Leopold Museum in Wien (2016/2017). [CH]



35
Ahnenfigur/Geister-Partner (blolo bian)
Holz. Baule, Elfenbeinküste
Schätzung:
€ 2.000
Ergebnis:
€ 8.125

(inklusive Aufgeld)