Lexikon
Sonderwege des späten 18. Jh.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert, als die Aufklärung die Kulturlandschaft Europas maßgeblich veränderte, ist ein Phänomen zu beobachten: Es entsteht eine Kunst der Einzelgänger, die sich keiner der herrschenden Stilepochen zur Zufriedenheit zuordnen lässt, geschaffen von Malern und Graphikern, die ungeachtet des Zeitgeschmacks einen subjektiv-"genialischen", oftmals ungestümen und ins Groteske oder Phantastische spielenden Stil pflegen. Freilich gab es seit der Renaissance zu allen Zeiten solche Individualisten, doch im späten 18. Jahrhundert treten sie auffällig geballt innerhalb einer einzigen Generation auf.
Der Schweizer Maler und Dichter Johann Heinrich Füßli (1741-1825), der sich in England, wo er lange Zeit wirkte, Henry Fuseli nannte, thematisierte gespenstisch übersteigerte Traumvisionen von barockem Pathos, zu denen er sich häufig literarisch anregen ließ. Auch John Flaxmans (1755-1826) subjektive, ornamentale Stiche sind anzuführen, deren Prinzipien von William Blake (1757-1827) ins Expressiv-Phantastische überführt wurden.
Die verblüffende künstlerische Freiheit und Modernität, die im England des späten 18. Jahrhunderts zu bemerken ist und manches Mal als Antizipation der Romantik verstanden wurde, hat auf dem europäischen Festland Entsprechungen. Allen voran ist Francisco José de Goya y Lucientes (1746-1828) anzuführen. Seit den 1790er Jahren, nachdem er sein Gehör verloren hatte, veränderte sich seine Kunst: Grotesk und drastisch zeigen sich seine Graphiken, karikierend überspitzt das Gruppenbildnis der "Familie Karls IV.", von düsterer, erschreckender Phantastik die "Pinturas Negras" des Spätwerks. Auch die Kunst des deutschsprachigen Raums hat mit Maler Müller oder Franz Xaver Messerschmidt Individualisten hervorgebracht, die gelegentlich zu Vertretern eines "Sturm und Drang" in den Bildkünsten ernannt wurden.