Lexikon
Kinderbücher

Kinderbücher sind nicht nur reine Märchenbücher, wie die berühmten Geschichten der Gebrüder Grimm, sondern unter dem Begriff verbirgt sich eine weit größere Vielfalt. Unter dem Ausdruck „Kinderbücher“ versteht man allgemein alle Schriften, die für Kinder und Jugendliche als geeignet gelten. Darunter fallen sowohl Bücher, die speziell für jugendliche Leser verfaßt wurden, als auch Werke, die sich adaptiert haben. So zählen zu Kinderbüchern neben Einblattdrucken, Bilderbögen und -büchern auch Fibeln, ABC-Bücher, Benimmbücher, Märchen, Erzählungen und Romane für Kinder und Jugendliche sowie Comics oder sogenannte Pop-up und Movable Books.

Alte Kinderbücher üben einen eigenen Reiz aus und haben einen großen kulturgeschichtlichen Wert. In der Geschichte der Illustration hat das Kinderbuch eine besondere Stellung, denn schon recht früh, ca. seit Ende des 17. Jhs., erkannte man die pädagogische Bedeutung von Bildern für die Entwicklung des Kindes. Die Wurzeln der eigens für ein jugendliches Publikum verfaßten Literatur führen bis in die Entstehungszeit des Buchdrucks. Als Beispiel für frühe Kinderbücher seien hier das religiöse Werk Seelentrost von 1487 sowie Der Jungen Knaben Spiegel von Jörg Wickram aus dem Jahre 1554 genannt. In ihrer Entstehungszeit wurden Kinderbücher nicht von Schulbüchern unterschieden. Erst mit der Entwicklung des Schulwesens und dem damit verbundenen Rückgang des Privatunterrichts kam es zu einer Separation zwischen den beiden Textsorten. Eine erste Blütezeit erlebten Kinderbücher gegen Ende des 18. Jahrhunderts, da in diesem Zeitraum im Rahmen der Aufklärungsbewegung bekannte Autoren, Wissenschaftler und Pädagogen wie J. B. Basedow, J. H. Campe, und F. J. Bertuch für Kinder und Jugendliche zu schreiben begannen. Bertuchs auf Auktionen gefragtes großartiges Bilderbuch für Kinder ist eine der berühmtesten Kinderbuch-Enzyklopädien und avanciert zu den „kostbarsten Schätzen des Sammlers illustrierter Bücher" (E. Strobach in Philobiblon XIII, 255 ff.). Es befindet sich in vielen erlesenen Büchersammlungen oder bibliophilen Bibliotheken.

Dabei stand bei diesen Kinderbüchern die moralische und sachliche Belehrung im Vordergrund, während unterhaltende Elemente eher weniger Raum einnahmen. Konträr zu dieser Bewegung bevorzugten die Romantiker wieder genau die Art von Kinderbüchern, gegen die sich die Aufklärer gewendet hatten, nämlich Volksmärchen, Puppenspiele, Sagen und Legenden. Als bedeutendste Kinderbücher der Romantik gelten unter anderem Des Knaben Wunderhorn von A. von Arnim und C. Brentano und die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Im weiteren 19. Jahrhundert lassen sich biedermeierlich-realistische und moralische Impulse in den Kinderbüchern wiederfinden, wobei auch die romantischen Tendenzen absorbiert wurden. Als Beispiel seien hier die Kinderbücher Max und Moritz von Wilhelm Busch (1832-1908) und Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1809-1894) genannt. Über Jahrzehnte hinweg hatte Heinrich Hoffmanns Struwwelpetergeschichte aus dem Jahre 1845 einen großen Einfluß auf Kinder und ebenso deren Eltern. Seine Lustige Geschichten und drollige Bilder sind "ohne Zweifel der größte Erfolg der deutschen Kinderliteratur" (Doderer/Müller). Sowohl der Zappel-Philipp als auch Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug beeinflußten die moralischen und Anstands-Vorstellungen vieler Haushalte.

Ende des 19. Jahrhunderts prägte der Jugendstil das bildnerische Wahrnehmungsvermögen neu. Gerlachs Jugendbücherei vereinte Sagen, Märchen, Erzählungen, Wiegenlieder und Schwänke mit reizvollen Illustrationen aus der Zeit des ausgehenden Jugendstils. Die Wiener Kunstschule gestaltete um 1900 ein aufsehenerregendes Künstler-Bilderbuch, an dem 9 Künstlerinnen beteiligt waren. Der besondere Reiz der Bilder liegt in dem Verfahren der bildlichen Reduktion. Durch die Schablonenmalerei werden die Bildinhalte in wenige flächige Elemente zerlegt, die auf das Mindestmaß erkennbarer Formenteile reduziert erscheinen. Eher unbekannt ist indes Delavillas Ein trauriges Stücklein. "Die in Wien hergestellten Handdrucke wurden 1906 im Rahmen der bei Julius Zeitler in Leipzig erscheinenden 'Jung-Wiener Versuchsdrucke' in einer sehr geringen Auflage (angeblich 30 Stück) veröffentlicht. Das Büchlein gehört zu jenen kostbaren Erzeugnissen, deren ästhetischer Reiz natürlich nicht eine kindertümliche Wirkung erzielen wollte" (Schug). Bei einer Schätzung von 500 € erzielte das seltene Buch 2012 auf einer deutschen Auktion 7.200 €.

Movable books und Popup-Bücher nehmen eine Sonderstellung unter den Kinderbüchern ein und erfreuensich auf deutschen und internationalen Auktionen auch heutzutage großer Beliebtheit. Lothar Meggendorfer (1847-1925) beeinflußte moderne Buchdesigner und Künstler noch bis heute. Er zeigte erstmals, wie Illustrationen beweglich werden können, noch lange vor Animationsfilmen und modernen interaktiven Nachweisen wie dem Internet. Seine Bildergeschichten gehören zu den Vorläufern der Comicgeschichten. Der Internationale Zirkus ist sein schönes und lebendigstes Aufstellbuch. Eines seiner dekorativen Ziehbilderbücher mit Schattenrißfiguren erschien 1887 unter dem Titel Bewegliche Schattenbilder und sorgte 2014 auf einer deutschen Auktion mit einem Zuschlag von 3.300 € für die Verdoppelung des Schätzpreises. Eines der frühesten beweglichen Bücher im deutschsprachigen Raum stammt jedoch von dem Österreicher Leopold Chimani (1774-1844). Unter dem Titel Die beweglichen Bilder mit der Beschreibung einiger schönen Umgebungen Wiens verbergen sich Bilder mit Ziehmechanismen, die u. a. einen Maskenball, Jagd- und Tanzszenen zeigen.

Besonders gesucht sind heutzutage auch Künstler-Bilderbücher, die im frühen 20. Jahrhundert entstanden. Tom Seidmann-Freuds (1892-1930) Buch der erfüllten Wünsche ist mit seinen beweglichen Elementen und Schablonen vielleicht ihr vielschichtigstes und vollendetstes Werk, die Künstlerin mit dem ungewöhnlichen Namen schuf aber auch Spielfibeln, z. B. zum Rechnen. Der österreichische Designer Joseph Maria Olbrich (1867-1908) entwarf das äußerst geschätzte Bilderbuch Es war einmal, das in den letzten Jahren auf Auktionen immer mehr Zuspruch fand. Lily Hildebrandts Klein-Rainers Weltreise (1918) ist eines der bedeutendsten Beispiele für das experimentelle Bilderbuch, das wie aus Buntpapierstücken zusammengesetzte abstrakte Farbformen mit einer eigenen, weitgehend abstrahierten figürlichen Bilderwelt zeigt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Epoche des Kinderbuchs ist die Herausbildung des Mädchenbuchs. So fanden E. von Rhodens Trotzkopf und J. Spyris Heidi große Beachtung bei der weiblichen Leserschaft. An Jungen richtete sich hingegen die Abenteuerliteratur, zu deren wichtigsten Autoren etwa K. May, C. Sealsfield und F. Gerstäcker zählen. Während es im Dritten Reich zu einer staatlich gelenkten Kinder- und Jugendliteratur kam, entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR und der BRD zwei unterschiedliche Traditionen von Kinderbüchern: In Ostdeutschland orientierten sich die Autoren an sowjetischen Kinderbüchern, während in Westdeutschland das Spektrum der Kinderliteratur durch englische, amerikanische und skandinavische Kinderbücher erweitert wurde. Dabei standen zunächst phantastische Kinderbücher in Vordergrund, während in den 80er Jahren realistische Tendenzen und sozial-aufklärerischer Anspruch an Bedeutung gewannen. Märchenhaft-phantastische Kinderbücher wie Die unendliche Geschichte von M. Ende oder J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe erlangten jedoch schließlich auch bei erwachsener Leserschaft Popularität. Jüngster Beleg für diese Entwicklung ist sicherlich die ungeheuer erfolgreiche Reihe der Harry-Potter Geschichten von J. K. Rowling. Seitdem finden Kinderbücher einen erweiterten Betrachtungskreis und werden auch von Erwachsenen zumindest tendenziell als literarisch ernst genommen.